Bibliotherapie

Die Kraft des gedruckten Wortes

 

Sie bestehen nur aus Papier und Tinte. Doch die Zeichen, die zu Worten und diese wiederum zu Geschichten werden, verleihen ihnen Zauberkräfte. Bücher können trösten, inspirieren, informieren, Mut machen, uns in andere Welten entführen und diese Welt erklären. Sie machen es möglich, dass wir andere Menschen und uns selbst besser verstehen. Sie kurieren kleine Wunden der Seele, sind Pflaster für Wehwehchen im Alltag und treue Begleiter. Sie sind ein Anker, den wir jederzeit auswerfen können, um Halt in unserem bewegten Leben zu finden.

Autorin: Jana Pajonk

Dass Büchern eine besondere Kraft innewohnt, weiß jeder, der sich schon mal in einen Roman vertieft hat. An der Seite der Protagonistinnen erleben wir Abenteuer und meistern Schicksalsschläge. Das gibt uns Mut, auch im eigenen Leben mit Herausforderungen fertigzuwerden. Wer als Teenager Außenseiter ist, fühlt sich in Gesellschaft von Holden Caulfield in J. D. Salingers Buch Der Fänger im Roggen weniger einsam. Eine Frau, die gerade eine Scheidung durchläuft, kann in Siri Hustvedts Sommer ohne Männer Kraft für einen Neuanfang schöpfen.

Die Heilkräfte der Bücher macht sich eine besondere Form der Kunsttherapie zunutze: Die Bibliotherapie geht davon aus, dass sich das Lesen von Büchern positiv auf unsere körperliche Gesundheit und das seelische Wohlbefinden auswirkt und vor allem seelische Beschwerden lindern kann. Bücher werden eingesetzt, um Menschen in schwierigen Lebenssituationen, bei Krankheiten oder zur persönlichen Weiterentwicklung zu helfen.

Wie genau Bücher wirken und warum Worte so einen Einfluss auf unseren Gemütszustand haben, erforschen heute Natur- und Geisteswissenschaftler Seite an Seite. Den Stand der Forschungen hat die Theaterwissenschaftlerin und Journalistin Andrea Gerk in ihrem Buch Lesen als Medizin zusammengefasst und beschreibt sehr anschaulich, was gelesene Worte in unserem Gehirn bewirken: „Millionen feuernder Nervenzellen und Synapsen lassen im Bruchteil einer Sekunde in den verschiedensten Arealen des Gehirns nicht nur das Schrift- und Klangbild eines Wortes entstehen, sondern rufen auch Erinnerungen, Gefühle und Bilder wach.“

Genau in dieser Verknüpfung mit unseren Gefühlen liegt das Geheimnis der Bibliotherapie, darin ist die Kraft der Bücher begründet. Weil sie unser Fühlen aktivieren, können Bücher uns an die Hand nehmen und uns helfen. In England kann man sich von Ärzten Rezepte für die Bibliothek ausstellen lassen. In Brasilien gibt es ein Hochsicherheitsgefängnis, in dem Häftlinge für ein gelesenes Buch vier Tage Haft erlassen bekommen. Zuvor müssen sie sich aber einem Test unterziehen, der bestätigt, dass sie den Inhalt des Buches wirklich erfasst haben. Sie dürfen so viele Bücher lesen, wie sie wollen und schaffen. Denn Lesen bildet und festigt die Persönlichkeit.

 

Vom richtigen Buch zur richtigen Zeit

Interview mit Literaturwissenschaftlerin Trude Schneider

© Rebecca Sampson

Eine junge Frau aus Berlin hat es sich zur Aufgabe gemacht, die positive Wirkung von Büchern in Deutschland bekannter zu machen und die Freude am Lesen zu fördern. Trude Schneider war Lehrerin, bis sie sich 2018 selbstständig machte. Auf ihrer Website www.literaturpower.de wimmelt es nur so von Inspirationen zum Lesen für jede Lebenslage. Man kann einfach darin stöbern oder im Schlagwortverzeichnis gezielt nach Buchempfehlungen zu bestimmten Themen suchen. Auf YouTube spricht sie mit Menschen über das Lesen, die richtigen Bücher und die Liebe zur Literatur. Und auf ihrem Instagram-Account dokumentiert sie unter der Rubrik „Humans of books“ (Büchermenschen) das Lesen im öffentlichen Raum in berührenden Bildern. Trude Schneider ist freiberufliche Literaturwissenschaftlerin. Die 33-Jährige hat in Rostock Literaturwissenschaft, Philosophie und Pädagogik studiert. Sie lebt und liest seit 2014 in Berlin. Unter www.literaturpower.de teilt Trude Schneider ihre Erfahrungen und neuesten Entdeckungen in Sachen Literatur. Nach Themen sortiert oder einfach in Artikeln, die inspirieren, findet man hier schnell das passende Buch für sein aktuelles Lebensgefühl.

SAM: Frau Schneider, seit wann lesen Sie und welches Buch hat als erstes bleibenden Eindruck bei Ihnen hinterlassen?

© Rebecca Sampson

Trude Schneider: Ich lese seit der Grundschule, bei uns zu Hause gab es sehr viele Bücher. Meine Eltern haben uns auch viel vorgelesen, das hat meine Liebe zu Büchern genährt. Das erste Buch, das eine wichtige Wirkung auf mich hatte, war zu meiner Jugendzeit Die Mitte der Welt von Andreas Steinhöfel. Es geht um einen Teenager, der Außenseiter ist, sich schwertut und dennoch Herausforderungen meistert. Das hat mir sehr viel Mut gemacht.

SAM: Welches Buch lesen Sie gerade?

Trude Schneider: (lacht) Nicht so spannende Finanzamtsachen. Aber hier liegt noch Der Wörterschmuggler von Natalio Grueso bereit, ein Roman über das Lesen. Ich lese sehr gerne Bücher über das Lesen. Und ich praktiziere Tsundoku, die Kunst, ständig neue Bücher zu kaufen, ohne alle, die ich habe, gelesen zu haben. So umgebe ich mich mit Wissen und Geschichten und schaffe mir eine Art geistigen Puffer. Es tut gut, dass es da ist und jederzeit greifbar, auch wenn ich es nicht sofort nutze. Ich denke, viele Leute kennen das.

SAM: Ja, durchaus. Wie beruhigend, dass es dafür einen Begriff gibt und es offenbar gar nicht so schlimm ist, ungelesene Bücher zu Hause liegen zu haben. Auf Ihrer Website steht, dass Bücher Ihr Leben sind. Was genau bedeuten Bücher für Sie?

Trude Schneider: Ganz viel. Bücher bedeuten Geschichten, Leben, Reisen. Wir können selbst viel reisen und erleben, aber niemals in dem Ausmaß, in dem Bücher uns das Leben näherbringen. Ich bin jemand, der die Welt verstehen und Menschen kennenlernen will. In Büchern kann ich alles über Menschen, Zwischenmenschliches, Kulturen und Länder lernen. Ich kann abtauchen, wenn ich das Gefühl habe, ich muss mal raus und meinen Horizont erweitern. Sie helfen auch, das eigene Leben besser zu verstehen. Ich habe schon einige Krisen meistern müssen. Bücher haben mir dabei geholfen. Sie haben mir Kraft gegeben, mich geerdet und zurückgeholt. Diese Erfahrungen möchte ich teilen, denn sie sind für mich sehr wertvoll.

SAM: Können Sie diese Kraft der Bücher erklären?

© Rebecca Sampson

Trude Schneider: Ja, wir Menschen arbeiten ja viel mit Worten, auch ohne dass wir sie aussprechen, zum Beispiel in Gedanken. Wenn wir für Dinge Worte finden, können wir sie besser verstehen und begreifen. Und Bücher helfen dabei. Sie erklären, finden Worte und machen so vieles greifbar. Außerdem hat die Magie der Bücher viel mit Identifikation zu tun. Wir versetzen uns in Protagonisten hinein, gehen gefühlsmäßig mit, nehmen teil. So lösen die Geschichten Gefühle in uns aus. Und das macht etwas mit uns. Wir finden in einem Buch meistens das, was wir finden wollen. Lassen uns durch Geschichten das bestätigen, was wir in uns vermuten und schon fühlen, uns aber noch nicht eingestehen wollen. Das gibt Selbstvertrauen und Mut.

SAM: Wie funktioniert literaturpower.de, Ihre Art Online-Sanitätshaus für Bibliotherapie?

Trude Schneider: Auf meiner Internetseite betreibe ich inspirative Bibliotherapie, das bedeutet, dass ich Menschen einlade, bestimmte Bücher in bestimmten Lebenssituationen zu lesen. Ich möchte damit Liebe, Selbstvertrauen und Motivation fördern und zeigen, wie Bücher einen im Leben begleiten können. Heilung verspreche ich nicht, ich bin keine Ärztin und keine ausgebildete Therapeutin. Und mir ist sehr bewusst, dass jedes Buch auf jeden Menschen eine andere Wirkung hat und die Wahrnehmung sehr individuell und subjektiv ist. Aber ich bin ein großer Fan von Geschichten und Belletristik. Ich weiß, dass alles, was dort passiert, auf uns wirkt. Diese Wirkungen versuche ich so gut es geht zu beschreiben und damit Menschen Anknüpfungspunkte für die eigene Lesereise anzubieten.

SAM: Wie kommen Sie auf die Buchempfehlungen?

Trude Schneider: Ich informiere mich ständig und überall, in der Buchbranche, über soziale Medien, bei vertrauten Journalistinnen und Literaturbloggern. Es gibt zwei Arten, wie meine Tipps entstehen. Entweder ich habe ein Thema und suche ein passendes Buch. Oder ich lese ein Buch und schaue, welche Themen darin angesprochen werden.

SAM: Haben Sie einen Tipp, wie Menschen ein passendes Buch für sich finden?

Trude Schneider: Es ist gut, sich von einem Buch finden zu lassen. Gehen Sie in einen Buchladen, lesen Sie die Klappentexte und schauen Sie, was Sie spontan anspricht. Man kann natürlich auch online stöbern, in Literaturblogs oder eben auf meiner Website.

SAM: Herzlichen Dank für das interessante Gespräch!

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