Ersatzteillager Mensch?
Wie moderne Prothetik Menschen neue Freiheit schenkt
Autor: Christian Sujata
Moderne Prothesen sind Hightech-Produkte, die weit mehr leisten als bloßen Ersatz verlorener Gliedmaßen. Sie ermöglichen Betroffenen ein selbstbestimmtes Leben – vorausgesetzt, Technik und Versorgung greifen nahtlos ineinander. Eine Schlüsselrolle können dabei die Sanitätshäuser mit dem Lächeln spielen: Sie sind Schnittstelle zwischen Medizin, Technik und Mensch – und begleiten den Weg in ein neues Leben Schritt für Schritt.
Eine Amputation bedeutete früher oft den Verlust von Lebensqualität. Heute eröffnen moderne Prothesen Wege in ein selbstständiges Leben – mit Sport, Beruf und gesellschaftlicher Teilhabe.

Sensorik, Mikroprozessorsteuerung und modulare Systeme machen es möglich. Was nach Science-Fiction klingt, ist längst Alltag: Prothesenfüße, die sich automatisch an unebenes Gelände anpassen, oder Kniegelenke, die den Gang intelligent mitsteuern.
Technologie, die Menschen dient
Zu beobachten sind nicht nur Fortschritte in der Medizintechnik, sondern auch eine wachsende gesellschaftliche Anerkennung von Menschen mit Prothesen. Viele Trägerinnen und Träger verzichten heute bewusst auf kosmetische Verkleidungen – sie zeigen ihr Hilfsmittel als Zeichen von Stärke und Selbstverständnis.
Doch Technik allein reicht nicht. Entscheidend ist, wie passgenau eine Prothese auf den Menschen abgestimmt ist – körperlich wie emotional. Hier setzt die Arbeit der Sanitätshäuser an.
Individuelle Versorgung, lebenslange Begleitung

Sanitätshäuser sind weit mehr als Ausgabestellen für Hilfsmittel. Sie sind hoch spezialisierte Orte, an denen Menschen nach oft schweren Einschnitten in ihr Leben aufgefangen und begleitet werden.
Die Prothesenversorgung beginnt mit einer intensiven Beratung, setzt sich fort mit maßgefertigten Interimsmodellen und mündet schließlich in einer dauerhaften Lösung – individuell abgestimmt auf Mobilität, Lebensstil und Alltag.
Auch nach der Erstversorgung bleibt das Sanitätshaus ein verlässlicher Partner. Regelmäßige Nachkontrollen, Anpassungen und der Austausch verschlissener Komponenten sind zentraler Bestandteil der Versorgung.
Dabei sind es oft die Details, die den Unterschied machen: Wird viel gesessen oder viel gegangen? Wird geschwommen, getanzt oder gearbeitet? Und wie sieht es mit der psychischen Verarbeitung aus?
Was moderne Prothetik heute möglich macht, wie eine Versorgung im Sanitätshaus konkret abläuft und welche Rolle die Menschlichkeit neben der Technik spielt, erfahren Sie im nachfolgenden Interview mit dem Orthopädietechniker Malte Stein.
„Mit einer Prothese ist heutzutage fast alles möglich“
SAM-Autor Gunnar Römer sprach mit Malte Stein, Prothetik-Experte im Sanitätshaus Scharpenberg.

SAM: Herr Stein, welche Bedeutung hat die moderne Prothetik heute – und wie hat sich das Gebiet in den letzten Jahren gewandelt?
Stein: Die Akzeptanz von Prothesen ist deutlich höher, in der Gesellschaft und den Medien. Und am wichtigsten: Bei den Prothesenträgern selbst. Ich habe Kunden, die noch darauf bedacht sind, die Prothese bestmöglich zu verdecken. Heute wollen aber viele keine Kosmetik mehr, tragen kurze Hosen und zeigen selbstbewusst ihr Hilfsmittel.
SAM: Was sind die häufigsten medizinischen oder unfallbedingten Ursachen für eine Amputation?
Stein: Das sind Erkrankungen wie die periphere arterielle Verschlusskrankheit, Knochenkrebs, Blutvergiftung oder Diabetes mellitus. Seltener sehen wir Unfälle als Ursache.
SAM: Wie gestaltet sich der Ablauf einer Prothesenversorgung im Sanitätshaus in der Praxis?
Stein: Nach der Amputation folgt ein Erstgespräch und eine Beratung. Dann wird ein Rezept ausgestellt und eingereicht. Im ersten halben Jahr trägt der Patient eine Interimsprothese, die jederzeit angepasst werden kann, weil sich Mobilität und Stumpfvolumen ändern. Das erste halbe Jahr braucht eine intensive Betreuung. Erst dann bekommt der Träger eine Permanentprothese.
SAM: Welche Kriterien spielen bei der Auswahl einer individuell geeigneten Prothese die größte Rolle?
Stein: Anhand von Faktoren wie Mobilität und Körpergewicht entscheiden wir, welche Prothese geeignet ist. Beispiel: Möchte jemand regelmäßig schwimmen, braucht es ein Exemplar mit wasserfesten Passteilen.
SAM: Inwieweit handelt es sich bei modernen Prothesen um Maßanfertigungen – und wo kommen modulare Systeme zum Einsatz?
Stein: Der Prothesenschaft ist immer eine Maßanfertigung. Passt er nicht, können die weiteren Teile noch so gut sein, die Prothese wäre nicht brauchbar. Alle unter dem Schaft liegenden Teile sind ein Modulsystem.
SAM: Welche Prothesenkomponenten sind besonders anfällig für Verschleiß und wie funktioniert die Ersatzteilversorgung?
Stein: Grundsätzlich können alle Teile einer Prothese verschleißen. Wir bestellen unsere Kunden alle sechs Monate zur Prothesenkontrolle ein, einmal im Jahr ist dies ohnehin gesetzlich vorgeschrieben. Hygienisch relevante Teile sollten halbjährlich ausgetauscht werden. Wir tauschen die Teile im Sanitätshaus aus.
SAM: Welche Erfahrungen machen Trägerinnen sowie Träger im Alltag mit ihrer Prothese und wo liegen möglicherweise noch Einschränkungen?
Stein: Für die meisten ist es eine große Hilfe. Mit dem entsprechenden Willen und der Fitness gibt es kaum noch Einschränkungen. Ich habe einen oberschenkelamputierten Kollegen, der fährt Wakeboard und Auto (nach Umbau), geht bouldern und besucht Festivals. Sogar Motorradfahren ist bei entsprechendem Umbau von Kupplung und Bremsen möglich, sofern das Modell dies zulässt.
SAM: Welche Sorgen äußern Betroffene und wie begegnen Sie diesen im Versorgungsprozess?
Stein: Unsicherheit gibt es durchaus oft. Man muss den Menschen vermitteln, dass bei entsprechender Mitarbeit vieles möglich ist. Wir können die besten Prothesen bauen, wenn der Anwender nicht bereit ist, mitzuarbeiten, wird es schwierig. Unterstützung bieten zudem Peers, also Betroffene, die selbst eine Prothese tragen. Sie besuchen Amputierte im Krankenhaus, nehmen Ängste und klären auf. Dies könnte ich als Techniker mit zwei gesunden Beinen niemals so authentisch.
SAM: Welche technologischen Entwicklungen prägen die moderne Prothetik aktuell und in welche Richtung geht die Forschung künftig?
Stein: Es gibt Produkte, die das Körpergefühl noch besser machen. Z. B. Prothesenfüße, die auch auf unebenem Grund sicheren Halt bieten. Innovativ ist auch die TOPS-Versorgung, bei der die Prothese direkt im Knochen verankert wird – eine Alternative für all die, die nicht mit einer Schaftprothese versorgt werden können. Die Zukunft gehört Prothesen, die direkt von den Nerven gesteuert werden.
SAM: Was begeistert Sie persönlich an Ihrer Arbeit in der Prothetik?
Stein: Die Vielfältigkeit und der Umgang mit innovativer Technik. Wenn ein neues Produkt auf den Markt kommt, begeistert es mich. Eigentlich gibt es nur noch eine Steigerung: Wenn ein Anwender eine neue Prothese bekommt und die ersten Schritte damit macht und ich Kunden sehe, bei denen ich erst skeptisch war, ob das mit der Prothese funktioniert – die aufstehen und loslaufen – das macht mich am meisten glücklich.

Die Sanitätshaus Scharpenberg Orthopädie-Technik GmbH wurde 1998 gegründet und beschäftigt derzeit rund 90 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an acht Standorten, mit Hauptsitz in Rostock.
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