Power aus den Füßen
Wie moderne orthopädische Einlagenversorgung funktioniert
Autorin: Nicole Giese
Sie sind das Fundament des Körpers, der uns jeden Tag durchs Leben trägt. Wenn unsere Füße jedoch selbst eine Stütze brauchen, können individuelle Einlagen ins Spiel kommen. Heutzutage ist die Versorgung hochtechnisiert. Und auch die wissenschaftliche Begleitung spielt eine immer größere Rolle.
Montagvormittag, 10 Uhr, in Offenbach. Christoph Mayer, Orthopädietechnik-Meister und Geschäftsführer im Sanitätshaus Schneider & Piecha hat einen Kundentermin zur Einlagenversorgung. 1:1-Augengespräche machen rund neunzig Prozent seines Alltagsgeschäfts aus. „Ich habe in meiner Ausbildung gelernt: Durch Telefon und Hose keine Diagnose“, sagt er schmunzelnd. Und gerade im Bereich Einlagenversorgung sei ihm die individuelle Anpassung ein besonderes Anliegen.
Erster Schritt ist oft eine Gangoder Laufanalyse
Meist sind es Gelenk- und/oder Muskelbeschwerden während des Laufens oder Gehens, die Mayers Kundinnen und Kunden zu ihm bringen. Teilweise liegt eine ärztliche Diagnose vor, aber das auslösende Moment ist unbekannt. Erster Schritt ist daher oft eine Gang- oder Laufanalyse. „Im biomechanischen Ablauf sehen wir mehr und können die Einlagen dementsprechend anpassen“, betont Mayer. Konventionelle orthopädische Einlagen stützen das Fußskelett, sodass seine Form optimiert wird. Zu den klassischen Indikationen gehören Diabetes- sowie Rheumapatientientinnen und -patientenen. Neben der Stütz- und Führungsfunktion nutzen Orthopädietechnikerinnen und -techniker heute aber auch Einlagen, die an der Muskulatur ansetzen.
Sensomotorische Einlagen stimulieren bestimmte Muskeln
Bei sensomotorischen Einlagen werden an verschiedenen Muskelgruppen Wölbungen, sogenannte Pelotten, eingebaut, die durch gezielte Nervenreize bestimmte Muskeln stimulieren. „Zum Beispiel kann ich bei Wadenkrämpfen Zug auf die Fußfaszie geben, um die Wade zu entlasten“, erklärt Christopher Mayer. Das ist immer eine Einzelfallentscheidung. Sensomotorische Einlagen sind selten Kassenleistungen. Überhaupt hat Mayer einen immer stärkeren Zulauf an Selbstzahlerinnen und -zahlern registriert. Er macht dafür nicht nur, aber auch die Coronapandemie verantwortlich. „Viele sind zu Hause geblieben und haben gesagt, jetzt kümmere ich mich mal um meine Gesundheit“, sagt Mayer.
Ebenfalls ein Thema: der (Leistungs-)Sportbereich. „Wir arbeiten heraus, wo Sportlerinnen oder Sportler verletzungsgefährdet sind und was wir tun können, um die Athletinnen und Athleten gesund durch ihren Wettkampf zu bringen“, erklärt Mayer, der derzeit berufsbegleitend ein Studium der Sporttherapie absolviert. Dabei spielt der digitale Bereich eine immer größere Rolle. Im 3-D-Labor werden Kundin oder Kunde komplett gescannt. „Wir schauen auf die Laufökonomie und machen Veränderungen durch Schuhe oder Hilfsmittel visuell innerhalb von 30 Sekunden sichtbar, ohne viel zu berechnen“, erklärt Mayer.
Bei all den positiven Entwicklungen bleibt ein Wermutstropfen. So hängt die Kostenübernahme durch die Krankenkassen nicht zuletzt von einem Wirksamkeitsnachweis ab. Und die wissenschaftliche Studienlage im Bereich der Einlagenversorgung ist nach wie vor dünn. Bei Diabetikerinnen und Diabetikern sowie rheumatischen Erkrankungen sieht Professor Dr. Stefan Sesselmann von der Ostbayerischen Technischen Hochschule (OTH) Amberg-Weiden derzeit die beste Datenlage und die relevanteste Zielgruppe. Für weitere Indikationen fehlten randomisierte, kontrollierte Studien weitgehend. Also Studien mit einer Experimental- und einer Kontrollgruppe sowie einer zufälligen Aufteilung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf beide Gruppen – der Goldstandard in der Wissenschaft. Solche Studien sind teuer und dauern. „Da müssen wir einen guten Kompromiss finden und uns auch breit aufstellen“, sagt der Wissenschaftler. Bis belastbares Datenmaterial vorliegt, setzt Sesselmann vor allem auf eine exakte medizinische Indikation und zwingend auf eine individuelle Anpassung der Einlagen.
In den kommenden Jahren wird sich die Einlagenversorgung weiterhin wandeln, ist Orthopädietechnik-Meister Christopher Mayer überzeugt. „Die CNC-Technik hat einen Riesenknall gemacht bei uns in der Branche“, betont der Experte. Einlagen aus dem Regal und ein bisschen Drumrumschleifen – „das gibt es bei uns überhaupt nicht.“ Der 3-D-Druck von Einlagen werde das nächste Riesenthema, prophezeit er. „Da kann man sehr gute, zeitgemäße Versorgung machen, wenn man sich die Zeit für die Kundin oder den Kunden nimmt.“ Für neue Entwicklungen bleibt der Geschäftsführer offen. „In so einer technisierten Branche können wir nicht stehen bleiben. Wir müssen neue Reize setzen, sonst fallen wir irgendwann hinten runter“, sagt er. Nicht zuletzt geht es bei diesem Thema auch um die Zukunft der Branche. „3-D-Drucke sind recyclebar, man hat nicht so viel Abfall wie beim Fräsen“, richtet der Experte den Blick abschließend in Richtung Klimaneutralität.
Schneider & Piecha gehört zu den Offenbacher Unternehmen der „ersten Stunde“ und wurde 1947 von den Orthopädietechniker-Meistern Schneider & Piecha gegründet. Am Anfang stand das Bestreben im Vordergrund, den seinerzeit zahlreichen Kriegsversehrten mit Prothesen und anderen Hilfsmitteln das Leben zu erleichtern. Mittlerweile liegt die Geschäftsführung bei Christina, Franz und Christopher Mayer. Mayer bildet außerdem für die Deutsche Triathlon Union Trainer im Bereich Gang- und Bewegungsanalyse aus und verfügt selbst über eine Triathlontrainer-Lizenz. Mit dem Zentrum für Bewegungsanalytik ist Ende 2011 ein weiterer Unternehmensbereich hinzugekommen. Auf mittlerweile mehr als 1000 Quadratmetern stellt das Haus Einlagen, Bandagen und andere orthopädische Hilfsmittel mit einem Team von 35 ausgebildeten Fachkräften in eigener Werkstatt her. Mehr über das Sanitätshaus mit dem Lächeln erfahren Sie hier: www.schneider-piecha.de und facebook.com/schneiderundpiecha
Professor med. Stefan Sesselmann wurde im Oktober 2017 als Facharzt für Orthopädie und Unfallchirurgie von der Orthopädischen Universitätsklinik Erlangen an die Ostbayerische Technische Hochschule (OTH) Amberg-Weiden auf die Professur für „Interprofessonelle Gesundheitsversorgung“ berufen. An der OTH leitet er das Labor für Biomechanik und ist Mitglied des Fakultätsrates und Qualitätsmanagementbeauftragter der Fakultät Wirtschaftsingenieurwesen. Zusätzlich ist er ausgebildeter Orthopädieschuhmacher.