Leidenschaft: Tango Argentino

Wen er einmal gepackt hat, den lässt er nicht mehr los: Tango Argentino ist mehr als ein Tanz. Es ist ein „Ja“ zum Leben und zu sich selbst, mit allen Höhen und Tiefen, gespeist aus der tiefen Sehnsucht nach Ganzheit.

Autorin: Jana Pajonk

Donnerstagnachmittag in einem Hinterhof in Berlin-Kreuzberg. Ein wenig aufgeregt stehen mein Freund und ich im Fahrstuhl Richtung dritter Stock. Dort erwartet uns Nikita Gerdt, ein preisgekrönter Tangotänzer, Choreograf und Tanzlehrer. Bei ihm haben wir heute unsere erste Tanzstunde. Und das nur, weil er letzten Sommer, als er selbst, in meiner Urlaubslektüre erschien. In dem Roman brachte er mithilfe einer spontanen Tanzstunde die entfremdeten Protagonisten wieder in Kontakt miteinander. Diese Szene hat mich nachhaltig fasziniert, weil mit ein paar Übungen alles plötzlich so klar erschien. Und das mit einem Tanz? Im Nachwort des Buches las ich dann, dass es diesen Nikita wirklich gibt und er in Berlin lebt, genau wie ich. Also wollte ich ihn und seinen Tanz kennenlernen.

Tanz der Suche und Sehnsucht

Tango Argentino entstand Ende des 19. Jahrhunderts in Argentinien inmitten einer materiellen und seelischen Notsituation. Viele Menschen, vor allem aus Südeuropa, waren dem Ruf in die neue Welt nach Südamerika gefolgt, um hier ihr Glück zu finden. Aber sie endeten als billige Arbeitskräfte. Entfremdet, entwurzelt und voller Sehnsucht im Herzen, nach einer Heimat, einem Partner, trotzten sie mit dem Tango ihrem Verlustschmerz. In der Musik, in den Texten und im Tanz kamen all diese Gefühle zum Ausdruck und konnten bearbeitet werden. Das Tanzen gab ihnen Hoffnung, immer weiterzugehen auf der Suche nach Ganzheit. Tango gilt bis heute als Tanz der Suche, der Sehnsucht, der Krise und des Umbruchs. Kein Wunder also, dass der Tanz Ende des 20. Jahrhunderts einen enormen Aufschwung erfuhr. Berlin, die Symbolstadt der Wende in ganz Europa, ist zu einer weltweit bekannten Tango-Metropole geworden.

Ganzheitliche Begegnung von Körper und Geist

Mitten in dieser Stadt kommt nun Nikita Gerdt strahlend auf mich zu. Er will mich zur Begrüßung umarmen, was ich leider zu spät verstehe, weshalb ich ihn mit meiner formell ausgestreckten Hand fast in den Bauch pike. Erst hinterher verstehe ich, dass Tango vor allem eine Umarmung ist, eine ganzheitliche Begegnung von Körper und Geist. Nikita lebt diese Umarmung. Jeden Tag, überall.

Wir ziehen unsere Tanzschuhe an, die wir noch so gut wie nie benutzt haben, und laufen unsicher Richtung Tanzfläche. Nikita freut sich. Er scheint nicht im Geringsten genervt von unserer Unbeholfenheit, sondern neugierig darauf, uns kennenzulernen, mit uns zu tanzen. Zuerst gehen wir einfach nur, vorwärts, auf den Spiegel zu, dann rückwärts. Sofort springt mein Kontrollzentrum an: Mache ich das richtig? Nikita lacht: „Es geht weniger darum, es richtig zu machen, sondern darum zu spüren, was für einen selbst stimmt und sich gut anfühlt.“ Nun bin ich total verunsichert und merke, wie schwer es mir fällt, genau das herauszufinden.

© Nikita Gerdt

Es geht um eine innere Haltung

Als Nächstes gehen wir gemeinsam, mein Freund und ich. Und ich merke, wie sehr ich mich darauf verlassen möchte, dass er führt. Doch er ist selbst damit beschäftigt, alles richtig zu machen, und wirkt ebenso verunsichert. Dann springt Nikita ein und geht – oder besser gesagt: tanzt mit jedem von uns ein Stück. Was für ein Unterschied! Dabei hat auch er nur einen Fuß vor den anderen gesetzt. So langsam wird mir klar, dass es hier nicht um eine Choreografie und einzustudierende Schritte geht, sondern zuallererst um eine innere Haltung. „Es geht nicht darum, zu führen oder zu folgen“, sagt Nikita, „sondern zu allererst um den Kontakt mit sich selbst. Erst, wenn ihr darin klar seid und du dich in dir aufgehoben fühlst, könnt ihr in echten Kontakt miteinander kommen. Dann kann der Tanz beginnen.“ Und so verbringe ich meine erste Tangostunde damit, in mich hinein zu spüren, mich innerlich und äußerlich aufzurichten und herauszufinden, wie ich sicher stehe und gehe, ohne auf die Unterstützung meines Partners angewiesen zu sein. Das Ganze üben wir dann auch mit den ersten Schritten zur Musik.

Sich selbst erfahren

„Beim Tango geht es darum, voll im Moment zu sein. Alles, was Du in diesem Augenblick bist, ist da“, erklärt Nikita nach der Stunde und beschreibt damit das, was ich in den letzten 45 Minuten getan habe. „Manchmal hat man das Gefühl, man tanzt sich selbst.“ Ja, das stimmt. Auch wenn ich nicht immer froh darüber war, was ich beim Tanzen über mich erfahren habe. Doch gerade hier liegt das große Potenzial des Tanzes: sich selbst erfahren, Körper und Geist zusammenbringen, sich etwas trauen und mit mehr Selbstsicherheit belohnt werden. Trotz unserer Verunsicherung sind wir angetan von dieser ersten Schnupperstunde und melden uns zu einem Einführungskurs bei Nikita an. Wir wollen mehr erfahren, über uns selbst und darüber, was aus unserer Beziehung werden kann, wenn wir über den Tango in Kontakt miteinander treten. Und ich träume davon, in nicht allzu ferner Zukunft in einem schönen Kleid auf einer Milonga zum leidenschaftlichen Klang von Bandoneon und Geigen mit mir, dem Moment und und meinem Partner zu verschmelzen.

NIKITA GERDT, Jahrgang 1981, wurde in Moskau geboren und lebt seit 1996 in Deutschland. Ein Freund brachte ihn zum Tango, der ihn nicht mehr losließ. Und so ist der diplomierte Physiker heute leidenschaftlicher Tänzer, Tanzlehrer und Choreograph für Tango Argentino. „Tanzen ist für mich Sein. Tanzen ist Leben“, steht auf seiner Website. „Zusammen zum Tanzen auszugehen, hat für mich vor allem damit zu tun, mit anderen Menschen eine gute Zeit zu verbringen. Mich interessiert es furchtbar wenig, wer wie gut tanzen kann. Ich tanze am liebsten mit herzlichen Menschen, Menschen, die ich persönlich gernhabe. Von allen tänzerischen Qualitäten schätze ich eine schöne Umarmung. Für die drei Minuten eines Lieds sind nur wir auf der Welt, und alles andere ist bedeutungslos.“ Weitere Infos zu Nikita, seinen Kursen, Auftritten und Projekten finden Sie unter: www.nikitagerdt.com

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