Laufen wie auf Wolken?
Kompressionsstrümpfe unter die Lupe genommen
Ursprünglich diente Kompressionskleidung als medizinisches Hilfsmittel zur Linderung von Krankheiten. Aber wussten Sie, dass heutzutage auch kerngesunde Menschen darauf zurückgreifen? Auf Reisen, beim Sport und am Arbeitsplatz tauchen plötzlich Kompressionsstrümpfe auf. Das SANITÄTSHAUS AKTUELL MAGAZIN hat sich für Sie umgehört und verrät Ihnen, wann und wie das ungewöhnliche Material für Sie sinnvoll ist sowie gegen schwere Beine hilft.
Autor: Christian Sujata
Vielleicht gehören Sie nicht zu den Menschen, die Kompressionsstrümpfe aufgrund einer Erkrankung tragen. Haben Sie trotzdem schon mal darüber nachgedacht selbst welche anzuziehen? Eventuell bei der Arbeit oder beim Sport? Sie wären mit dieser Entscheidung nicht allein. Es gibt Bereiche, in denen leichte Beine eine wichtige Rolle spielen. Egal, ob beim Zahnarzt, an der Supermarkt-Kasse, hinter dem Tresen oder beim Frisör – überall dort, wo meist im Stehen oder Sitzen gearbeitet wird, taucht die Strumpfbekleidung auf. Das Tragen des Kompressionsmaterials soll während eines mühseligen acht oder mehr Stunden-Arbeitstags für Entlastung sorgen.
Auf leichten Beinen um die Welt
Ähnlich wie im Berufsleben, verbreiten sich die Kompressionsstrümpfe auch bei Reisenden. Wenn Dr. Reinhold Hemker verreist, befindet er sich nicht selten in einem Flugzeug und es geht zumeist nicht in den verdienten Urlaub. Der ehemalige Bundestagsabgeordnete bereist im Auftrag der evangelischen Kirche diverse afrikanische Länder, um vor Ort Entwicklungsprojekte voranzutreiben. „Auf Empfehlung eines Freundes, habe ich vor Jahren Kompressionsstrümpfe bei einem Langstreckenflug getestet“, so Hemker. „Die Socken entpuppten sich als perfektes Hilfsmittel für mich.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Endlich konnte ich mich nach einem Flug nicht mehr über müde Beine beklagen.“ Die Erklärung dafür ist nicht schwer: Kompressionsstrümpfe fördern die Durchblutung und können bei langem Stillsitzen sowie gleichzeitigem niedrigen Luftdruck im Flugzeug dabei helfen, Thrombosen oder geschwollene Füße zu vermeiden.
Stardesigner Joop holt Kompressionsstrümpfe auf den Laufsteg
Der beschriebene Nutzen leuchtet zwar ein, aber das kann kaum der einzige Grund dafür sein, dass Kompressionsstrümpfe plötzlich „gesellschaftsfähig“ geworden sind. Stecken am Ende ästhetische Gründe dahinter? Waren die Socken früher in ihrem fleischfarbenen und drögen Aussehen alles andere als ein Hingucker, findet man sie heute in einem sportlichen Design und allen möglichen Farbvarianten wieder. Nahezu einen modischen Quantensprung absolvierten sie, als Modepapst Wolfgang Joop vor wenigen Jahren bekanntgab, ab sofort für eine große Herstellerfirma das Aussehen von Kompressionsstrümpfen zeitgemäß aufzupeppen. Die Branche staunte nicht schlecht, doch der Stardesigner sorgte mithilfe seiner „Schmerz und Heilung“-Kollektion dafür, dass Kompressionssocken nun wie normale Kleidungsstücke wahrgenommen werden und der medizinische Aspekt nur zu spüren ist.
„Der Strumpf muss stützen.“
Das ändert natürlich nichts daran, dass die Wirkung noch immer mindestens genauso wesentlich ist wie die Verpackung. „Bei vielen Sachen ist es von Bedeutung, dass sie elegant aussehen. Bei Kompressionsstrümpfen ist mir dagegen wichtiger, dass der Strumpf stützt“ verriet Barbara Becker, Schauspielerin und Ex-Frau von Tennis-Legende Boris Becker sowie bekennende Kompressionstrumpfträgerin, in einem Interview (BRIGITTE WOMAN 09/2012). „Wenn ich schwere Beine habe, ziehe ich beim Schlafen meine Stützstrümpfe an. Viele Frauen ziehen ihre schönen neuen Schuhe bei Regen lieber aus, um sie zu schützen. Ich möchte mit meinem Körper mindestens genauso gut umgehen“, so Becker weiter.
Muskelkater ade?
Auch im Sport spielt nicht unbedingt das Aussehen die entscheidende Rolle. „Beim Rennen mit Kompressionsstrümpfen fühlt es sich so an, als würde man auf Wolken laufen“, berichtet der 67-jährige Reinhold Hemker, der seit vielen Jahren leidenschaftlicher Läufer ist und bereits siebenmal den Ironman erfolgreich beenden konnte. „Zudem erfolgt damit die Erholung nach einem Wettkampf wesentlich schneller.“ Die Wissenschaftlerin Isabel Riesner von der Universität Chemnitz geht davon aus, dass die Gründe für die schnellere Erholungsphase darin liegen, dass die Kompression die Schwingungen der Muskeln beim Sport einschränkt und es dadurch deutlich seltener zu einem Muskelkater kommt (aus der Rheinischen Post, 01.12.2012).
Kompressionsbekleidung erobert die Sportwelt
Mittlerweile schwören sogar Größen aus dem Leistungssport auf das Material. Aber es sind nicht die Farben, die die Sportler überzeugen, sondern, dass die Kompressionen die Durchblutung fördern, Gelenke sowie Muskeln stabilisieren und den Energiehaushalt der Muskulatur verbessern sollen. Unter den Trägern finden sich bekannte Namen wie Langstreckenläuferin Paula Radcliffe (Marathon-Weltmeisterin 2005 und aktuelle Weltrekordhalterin), Sport-Multitalent Joey Kelly oder Sabrina Mockenhaupt, vielfache Deutsche Meisterin über 5.000 und 10.000 Metern. „Inzwischen ist Kompressionskleidung in fast allen Sportarten anzutreffen, selbst bei den Basketball- und Bahnradweltmeisterschaften“, stellt Professor Dr. Helmut Lötzerich (Hier geht’s zum kompletten Interview mit Prof. Dr. Lötzerich) von der Deutschen Sporthochschule Köln fest. „Es gibt Aussagen, wonach beispielsweise rund 20 Prozent der Marathonläufer bereits Kompressionskleidung tragen.“
Keine Kompromisse bei Kompressionen
Bevor die eigenen Waden allerdings in Kompressionsstrümpfe gepackt werden, sollte bei der Auswahl einiges beachtet werden. So empfiehlt Professor Dr. Lötzerich den Kauf von getesteter Markenware und rät zum Verzicht auf Billigprodukte: „Begeisterung hat ihren Preis. Die Enttäuschung ist definitiv billiger.“ Lötzerich spielt darauf an, dass Kompressionsstrümpfe korrekt nach Waden- oder Knöchelumfang und nicht nach Schuhgröße angeboten werden müssen.
Bewährtes Therapiewerkzeug
Doch nicht jeder greift freiwillig auf das Kompressionsmaterial zurück. Trotz der rasanten Verbreitung bei gesunden Menschen, kommt ihr die größte Bedeutung noch immer bei Krankheiten zu – als medizinisches Hilfsmittel bei Krampfadern, Thrombosen, Venenentzündungen und Ödemen. Menschen mit einem Gipsverband bekommen sie aufgrund des Bewegungsmangels des verletzten Körperteils genauso verschrieben wie Schwangere gegen geschwollene Venen, dem häufigen Begleiter einer Schwangerschaft. Im Gegensatz zu Schwangerschaften, Verletzungen oder Venenleiden kommt ein Lymphödem deutlich seltener vor, doch insbesondere bei dieser chronischen Krankheit haben sich Kompressionen als besonders geeignetes Therapiewerkzeug bewährt. Ein Lymphödem ist vielen Menschen noch immer kein Begriff. Es beginnt schleichend und zunächst unbemerkt. Ein Bein wird schwer oder ein Arm schwillt an.
Stau im Gewebe
So ähnlich war das auch bei Gudrun Kracht, als sie vor zwölf Jahren eines Morgens mit einem geschwollenen Bein aufwachte. Wie den meisten Menschen, die an einem Lymphödem leiden, war der heute 54-jährigen zunächst nicht klar, dass es sich bei der Schwellung um eine chronische Erkrankung handelt. „Erst als die Schwellung selbst im Liegen nicht mehr zurückging und auch Massagen oder heißes Brausen nicht halfen, bin ich zum Spezialisten gegangen“, berichtet Kracht. „Als der Arzt mir mitteilte, dass es sich um ein Lymphödem handelt, war ich erst mal platt und fragte: Was ist das denn?“. Beim Lymphödem sammelt sich Eiweiß im Gewebe an und die Filterfunktion sowie Immunabwehr des Lymphsystems funktionieren nicht mehr.
Schonendes Verfahren setzt sich durch
„Um mein Lymphödem zu behandeln, verordnete mir mein Arzt eine bis heute andauernde ganzheitliche Entstauungstherapie“, sagt Kracht. „Sie beinhaltet eine regelmäßige Spezialmassage und das ständige Tragen von Kompressionsbekleidung.“ Die Behandlung beinhaltet Hygiene- sowie Hautpflegemaßnahmen, eine Ganzkörper-Lymphdrainage (eine speziell entwickelte Massageart) und schließlich eine Kompressionstherapie, damit das erzielte Massageergebnis von dauerhaftem Erfolg ist. Dabei übt zunächst ein fester Kompressionsverband Druck auf das Gewebe aus und hindert die Flüssigkeit daran, einfach wieder zurückzufließen. Sobald das Lymphödem auf das kleinste erreichbare Volumen geschrumpft ist, kommen Kompressionsstrümpfe ins Spiel und es beginnt die Erhaltungsphase der Therapie. „Wichtig ist, dass flachgestrickte und nicht rundgestrickte Kompressionsstrümpfe verwendet werden, weil diese perfekt an die Anatomie angepasst werden können und nicht so leicht dazu neigen Schnürfurchen zu verursachen“, erklärt Professor Dr. med Markus Stücker vom Venenzentrum der Ruhr-Universität Bochum (Hier geht’s zum kompletten Interview mit Prof. Dr. Stücker).
Zurück im Leben
Zunächst die Kompressionsverbände und seit einigen Jahren die Kompressionsstrümpfe ermöglichen es Frau Kracht, wieder normal am Leben teilzunehmen. Neben ihrer Leidenschaft für das Zubereiten gesunder Gerichte, hat Gudrun Kracht seit einiger Zeit auch ihre Freude am Sport wiederentdeckt: „Ich liebe Nordic Walking. Wenn das Wetter mitspielt, unternehme ich gemeinsam mit meinem Mann auch gerne ausgiebige Wanderungen.“
Ironman in Kompressionsstrümpfen
In diesem Frühjahr streifte auch Reinhold Hemker seine Kompressionsstrümpfe wieder über, bei dem Versuch zum achten Mal einen Ironman erfolgreich zu beenden. Inwieweit sich der Nutzen bei gesunden Menschen wissenschaftlich belegen lässt, wird sich vielleicht erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten beantworten lassen. Schon heute zeigen all die Beispiele, wie Menschen unterschiedlichen Alters in individuellen Lebenssituationen, freiwillig oder therapeutisch verschrieben, die Vorteile des Kompressionsmaterials zu nutzen wissen oder dadurch den Spaß am Leben zurückgewinnen können.
Kompressionsstrumpf ist nicht gleich Kompressionsstrumpf
Kompressionsstrümpfe werden in vier Kompressionsklassen unterteilt. Von Klasse I mit einem leichten Druck für Schwangere oder als Prävention bei schweren Beinen bis Klasse IV mit starkem Druck bei chronischen Erkrankungen wie dem Lymphödem. Insbesondere im medizinischen Bereich werden die Strümpfe nach dem ermittelten Umfang- und Längenmaßen des Patienten angefertigt. Eine aktuelle Studie an der Ruhr-Universität Bochum ergab, dass wahllos ausgesuchte Modelle einschnüren oder rutschen können. Die Forscher raten daher, sich das Produkt nur von speziell geschultem Fachpersonal, beispielsweise in einem Sanitätshaus, anpassen zu lassen. Ein gutes Fachgeschäft erkennen Sie übrigens daran, dass sorgfältig Maß genommen wird, Sie eine ausführliche Beratung zu den Themen An- und Ausziehen sowie Pflege erhalten und der ausgewählte Kompressionsstrumpf im Sanitätshaus auf korrekten Sitz überprüft wird.