Im Gespräch: Digitalisierung im Hilfsmittelbereich voranbringen

Die Bundesregierung hat es sich zum Ziel gesetzt, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben. Dazu wurden zahlreiche Reformen auf den Weg gebracht, die auch die Hilfsmittelbranche verändern.

Es kommt Bewegung in die Digitalisierung von Sanitätshäusern und Orthopädietechnik: Davon zeugen nicht zuletzt neue Gesetze mit wohlklingenden Namen wie etwa PDSG (Patientendaten-Schutzgesetz) oder DVPMG (Digitale-Versorgung-und-Pflege-Modernisierungs-Gesetz). Im Bündnis „Wir versorgen Deutschland“ haben sich führende Vertreter der Leistungserbringer zusammengeschlossen, die der Politik die Bedeutung der wohnortnahen Hilfsmittelversorgung für die Gesundheitsfürsorge in Deutschland näherbringen sowie die gesetzlichen Rahmenbedingungen der Digitalisierung im Hilfsmittelbereich aktiv mitgestalten.
Was sich hinter den aktuellen Digitalisierungsgesetzen für Hilfsmittelleistungserbringer verbirgt haben wir zwei Vertreter des Bündnisses „Wir versorgen Deutschland“, Kirsten Abel, Sprecherin des Präsidiums des Bundesinnungsverband für Orthopädie-Technik (BIV-OT) und Anja Faber-Drygala, Leiterin Recht und Gesundheitspolitik bei der Sanitätshaus Aktuell AG, gefragt.

In welchen Bereichen bringen die Digitalisierungsgesetze im Hilfsmittelbereich die weitreichendsten Veränderungen?
Anja Faber-Drygala: Das PDSG regelt für Hilfsmittelleistungserbringer, dass sie Zugriff auf die Telematikinfrastruktur (TI) erhalten. Das DVPMG geht noch darüber hinaus und legt fest, dass die Gesellschaft für Telematik (gematik) bis zum 1.1.2024 die Voraussetzungen für die Nutzung der TI durch Hilfsmittelleistungserbringer schaffen soll. Außerdem gibt es vor, dass die Spitzenverbände mit den Leistungserbringern vereinbaren sollen, wie die Übernahme der Investitionskosten erfolgt.
Kirsten Abel: Das DVPMG legt den 1.7.2026 als verbindlichen Starttermin für die elektronische Verordnung (eVO) fest. Dabei wird es ab dem 1.1.2026 eine Übergangsperiode geben, die sicherstellt, dass die Hilfsmittelerbringer das e-Rezept technisch annehmen können. Die gematik ist nun beauftragt, den Prozess aufzusetzen. Das PDSG dehnt zudem das Makelverbot auf das e-Rezept aus: nicht nur für Krankenkassen, sondern auch für Vertragsärzte.

Welche Chancen ergeben sich für Hilfsmittelleistungserbringer durch den Anschluss an die TI?
Anja Faber-Drygala: Wie erhoffen uns eine Optimierung der Genehmigungs- und Abrechnungsprozesse. Aktuell erfolgt die Abrechnung bei jeder Krankenkasse anders. Die Einführung von eVO und TI bietet die Chance, einheitliche Datensätze zu produzieren und Sonderwege zu reduzieren. So wäre es auch sinnvoll, wenn derselbe Datensatz mittels eigener Schnittstelle zwischen Branchensoftware und TI in Zukunft direkt in den Abrechnungsprozess übergeleitet werden könnte. Wir bemängeln aktuell, dass die Schnittstellen zur Branchensoftware an vielen Stellen vergessen werden. Die Verantwortlichen der unterschiedlichen Bereiche sollten bei der Gestaltung der neuen digitalen Prozesse mehr zusammenarbeiten.
Kirsten Abel: Wir begrüßen als Spitzenorganisation mit der Einführung der elektronischen Patientenakte (ePA) den Zugang zur Versorgungsforschung. Wenn viele Patienten ihre Daten einpflegen, können wir auf breitere Versorgungsdaten zugreifen und mit Big Data daran arbeiten, die Versorgungsqualität weiter zu verbessern.

Werden Hilfsmittelleistungserbringer auch Zugriff auf die ePA erhalten?
Anja Faber-Drygala: Bisher sind die Hilfsmittelleistungserbringer noch nicht explizit im Kreis der zugriffsberechtigten Branchen auf die ePA genannt, beziehungsweise haben wir nur Leserechte. In Gesprächen ist es aber bereits Konsens, dass wir die Lese- und Schreibberichtigung bekommen werden. So wird es möglich sein, die Versorgungsdokumentation und die Beratungsdokumente dort abzulegen. Im Moment erfolgt das noch gescannt auf Papier in Aktenordnern, weil wir noch keine fälschungssichere elektronische Signatur haben. In diesem Zusammenhang muss auch noch geklärt werden, wie die Ausgabe des elektronischen Heilberufsausweises erfolgt. Die Orthopädietechniker bekommen den über das Handwerk. Sanitätsfachhändler benötigen jedoch eine Zugangsberechtigung. Unser Vorschlag ist, das über die Präqualifizierung zu lösen: Wer präqualifiziert ist, hat auch Zugriff auf die TI. Nach unseren Informationen ist das auch der Ansatz von Politik und der gematik.

Wo liegen die Herausforderungen beim Anschluss der Hilfsmittelleistungserbringer an die TI?
Anja Faber-Drygala: Im Gegensatz zu Ärzten und Apotheken ist unser Bewilligungsverfahren komplizierter. Im Hilfsmittelbereich verordnet der Arzt nur die siebenstellige Positionsnummer gemäß Hilfsmittelverzeichnis. Die Leistungserbringer konkretisieren dann im Anschluss an eine Beratung der Versicherten die letzten drei Positionsnummern zum 10-Steller. Dieser Prozess inklusive Bewilligung der Versorgung durch die Krankenkasse muss erst noch von der gematik abgebildet werden. Dazu sind umfassende Beratungen auch mit den Softwareanbietern notwendig.
Kirsten Abel: Vor der Einführung der digitalen Prozesse in der Hilfsmittelversorgung müssen wir uns fragen, in welchen Bereichen Digitalisierung sinnvoll ist und wo vielleicht auch schädlich. Wenn beispielsweise die Einlagenversorgung digital propagiert wird, aber letztlich ein komplexer Versorgungsprozess an einen Laien übertragen wird, werden Hilfsmittelversorger als Experten sowie Haftungsregeln ausgeklammert, es entstehen Gesundheitsschäden und Haftungsverlagerungen auf den Patienten. Die Digitalisierung gerät da an ihre Grenzen, wo sich die Versorgungsqualität verschlechtert. Im Bereich der eVO für Hilfsmittel kommt es darauf an, einen Gesamtprozess zu entwerfen, der dann ohne Medienbrüche von der Verordnung bis zur Abrechnung läuft. Dazu müssen Prozesse der Hilfsmittelversorger definiert werden, denn sie weichen stark von dem derzeitigen Arzneimittelversorgungen ab und es müssen Schnittstellen zu den Arbrechungsdienstleistern definiert werden. Dann kommen noch die Krankenkassen hinzu. Im Moment laufen erste Pilotprojekte, die dann auch einen Feldversuch mit realen eVO enthalten, um den Gesamtprozess der eVO für Hilfsmittel digital zu denken. Auch Optica als Dienstleister ist daran beteiligt.

Wo bleiben wichtige Forderungen offen?
Anja Faber-Drygala: Die eindeutige gesetzliche Klarstellung fehlt, dass der Bewilligungsprozess „über“ den Leistungserbringer laufen muss, da er die ärztliche Verordnung konkretisiert. Unklar ist auch, ob und wie der Bewilligungsprozess der Leistungserbringer mit der Krankenkasse sowie der Abrechnungsprozess in die TI eingebunden werden. Zur Administrationserleichterung wäre es wünschenswert, wenn ein krankenkassenübergreifendes Genehmigungsverfahren eingeführt wird. Das sollte mit einer einheitlichen Struktur, die dem Datensatz zur Abrechnung nach § 302 SGB V entspricht, erfolgen. Parallelprozesse mit Systembrüchen führen zu administrativen Hürden und Mehrkosten.
Kirsten Abel: Im Moment gibt es zu viele unterschiedliche Lösungen. Die Verwaltungszeiten werden für die Leistungserbringer immer umfangreicher: Da ist das Vertragsmanagement, da sind die Schnittstellen für elektronische Kostenvoranschläge und für den nächsten Prozess gibt es wieder ein anderes System. Das geht smarter. Im Moment bilden die Gesetze den Prozess lediglich bis zum Einlösen des e-Rezepts ab. Wir haben den Anspruch, dass auch der Abrechnungsprozess effektiver wird. Medienbrüche müssen vermieden und der Versorgungsprozess als Gesamtkette abgebildet werden. So reduzieren wir Verwaltungszeiten und garantieren größtmöglichen Kundenbenefit.

Wie wird die technische Ausstattung zum Anschluss an die TI voraussichtlich aussehen?
Anja Faber-Drygala: Es zeichnet sich bereits ab, dass Hardware, wie zum Beispiel Kartenlesegeräte, nur eine Option für den Zugriff auf Daten aus der TI ist. Daneben setzen sich zunehmend webbasierte Lösungen durch. Sie ermöglichen dann etwa das Versenden von PDFs oder Datensätzen über Apps.
So entwickeln auch Krankenkassen und die gematik bereits erste Apps für Patienten. Dort sollen dann in Zukunft beispielsweise Verordnungen hochgeladen oder der Bearbeitungsstand von Hilfsmitteln abgerufen werden können.
Kirsten Abel: Die Erstausstattung zum Anschluss an die TI wird voraussichtlich, ähnlich wie bei den Ärzten, kostenfrei gestellt. Im Moment besteht die Hardware aus einem kleinen Kasten. Es ist bereits abzusehen, dass die Technik bis 2026 eine andere sein wird. Wichtig ist jetzt das Umdenken: Wir brauchen die Möglichkeiten die eVO auch mobil zu bearbeiten. Also kommt die Frage längst auf: Kann man die TI nicht auch über eine App auf dem Smartphone oder Tablet implementieren? Wir müssen die Verwaltungstätigkeiten durch den Einsatz digitaler Funktionen reduzieren und mehr Zeit für die individuelle Versorgung der Patienten als unsere Kernaufgabe freischaufeln.

Was können Hilfsmittelerbringer bereits heute für einen reibungslosen Anschluss an die TI tun?
Kirsten Abel: Im Moment dürfen sich Hilfsmittelleistungserbringer noch zurücklehnen und daraufsetzen, dass wir als Verbände unsere Arbeit tun. Der Gesetzgeber muss die Digitalisierung des Gesundheitswesens jetzt erst einmal gut einführen. Aber Hilfsmittelleistungserbringer sollten den Wunsch der Regierung zur Digitalisierung bereits heute ernst nehmen. Mit Einführung der TI ist ein Umdenken nötig: Wir müssen Kundenwünsche erfüllen und uns beim Aufsetzen der digitalen Prozesse fragen, was sie erwarten, wenn Termine bald nur noch digital gebucht und die Verwaltung elektronisch erfolgen soll. Da entwickeln sich neue Verhaltensweisen, die auch bereits in der Werbung aufgegriffen werden mit Fragen, wie: „Warum ist mein Rezept noch so 80er?“.
Anja Faber-Drygala: Die Leistungserbringer sollten, wo möglich, Lösungen mitdiskutieren und ihre Forderungen politisch platzieren. Es muss jetzt noch keine Hardware angeschafft werden. Wichtig ist aber, dass die Leistungserbringer in die Überlegungen eingebunden werden. Es gilt, Systembrüche im neuen digitalen Prozess zu vermeiden.

Liebe Frau Abel, liebe Frau Faber-Drygala, vielen Dank für das spannende Gespräch!
Das Interview führte Silvia Funke, freie Fachjournalistin aus Leipzig, für Optica