Jeden Tag ein bisschen schlauer
Wie lebenslanges Lernen unseren Geist fit hält
Das Jahr 2020 hat unser aller Leben auf den Kopf gestellt. Jede und jeder von uns hat sich selbst, seine Mitmenschen und die Gesellschaft neu erlebt. Seit März 2020 sind wir täglich mit Situationen konfrontiert, die wir so noch nicht kannten. Wir müssen immer wieder Ungewissheit aushalten und uns an ständig wechselnde Gegebenheiten und Vorgaben anpassen. Das ist anstrengend. Aber es gibt auch eine gute Nachricht: Wir lernen sehr viel dabei.
Autorin: Jana Pajonk
Was haben wir in den letzten Monaten nicht alles im Eiltempo verinnerlicht! Da wären AHA-Formel, Grundwissen über Viren, unterschiedliche Maskentypen oder Videotelefonie. Zahlreiche Menschen haben das Brotbacken, Kochen und Nähen für sich entdeckt. Und viele Deutsche haben seit Langem mal wieder Urlaub in der Region gemacht. Wir alle mussten lieb gewonnene Gewohnheiten aufgeben und uns neu ausrichten.
Die wahre Schule ist das Leben
Je mehr sich um uns herum verändert, desto mehr lernen wir. „Tatsächlich ist Lernen das Anpassen an eine neue Welt, an neue Situationen“, erklärt der Neurowissenschaftler Dr. Henning Beck. „Lernen ist die Voraussetzung dafür, dass ich mich auf neue Zusammenhänge einstellen kann.“ Und da uns das Leben täglich vor neue Situationen stellt, passiert das eigentlich permanent. Doch die meisten von uns denken beim Begriff Lernen fast nur an die Institution Schule. „Lernen hat ein schlechtes Image“, sagt er. „Das zeigen auch die vielen negativen Synonyme wie pauken, eintrichtern oder büffeln.“
Dabei vergessen wir gern, dass wir eigentlich alle Lernende sind, von der ersten bis zur letzten Minute unseres Lebens. Lernen ist so viel mehr als das Pauken von Fakten und deren Wiedergabe, wie wir alle es noch aus unserer Schulzeit kennen. Jede Aufgabe und Herausforderung, die uns unser Leben stellt, erfordert von uns, dass wir etwas dazulernen. Wie oft haben wir die Chance, etwas zu lernen, und nutzen sie nicht? Und so erleben wir ähnliche Situationen immer und immer wieder, so lange, bis wir es endlich verstanden haben. Die wahre Schule ist das Leben selbst. Was uns hier geboten wird, kann sich kein Pädagoge ausdenken, das kann man nicht in Lehrbüchern finden.
Wenn Leute etwas verstanden haben, dann lächeln sie
„Lernen ist etwas Wunderbares. Wenn Menschen etwas Neues erfahren, dann lächeln sie“, weiß Dr. Henning Beck. Etwas Neues zu erfahren, erfüllt uns Menschen. Wir brauchen neue Erfahrungen wie die Luft zum Atmen und sind von Natur aus wissbegierig. „Neugier ist der stärkste Trieb, den wir haben“, erklärt der Wissenschaftler. Und wir Menschen können Dinge nicht nur neu lernen, sondern sogar verstehen. Diese Fähigkeit, Dinge wirklich umfassend zu begreifen und in einem Zusammenhang zu erfassen, unterscheidet uns von den Tieren. „Was man verstanden hat, das bleibt ein Leben lang“, erklärt Beck.
Lernen ist gesund
Aber wenn wir immer mehr lernen, besteht dann nicht die Gefahr, dass unser Gehirn irgendwann voll ist? Kalifornische Wissenschaftler haben anhand einer 3-D-Simulation die Speicherkapazität des menschlichen Gehirns berechnet. Dabei kamen sie auf ein Fassungsvermögen von einem Petabyte, das sind eine Million Gigabyte! Das ist so viel, dass wir es nicht komplett mit Informationen befüllen könnten, selbst wenn wir ein Leben lang Tag und Nacht lernten. „Eine praktische Obergrenze für Wissen in unserem Gehirn gibt es nicht“, meint auch Dr. Henning Beck. Im Gegenteil: Es schadet unserem Gehirn, wenn wir es nicht benutzen. „Wenn sich Monotonie und Eintönigkeit in unserem Leben ausbreiten, werden wir vergesslich und bauen geistig ab“, erklärt der Neurowissenschaftler. Hingegen bleiben Menschen, die sich immer wieder Neues aneignen, neue Erfahrungen machen und etwas entdecken, geistig fitter.
Neuigkeiten gibt es in Zeiten des Internets genug. Doch nicht jede Information ist ein Gewinn. Nicht einmal drei Jahre dauert es derzeit, dann hat sich die Menge an Informationen, die uns zur Verfügung steht, verdoppelt. Wir haben heute Zugriff auf unzählige Quellen. Aber zu viele Informationen überfordern uns. „Was schnell reinkommt, verschwindet auch schnell wieder“, sagt Beck. „Wir müssen das, was wir aufnehmen, auch verdauen können, ähnlich wie beim Essen. Und dafür brauchen wir Zeit.“ Deswegen rät der Hirnforscher zum langsamen, bewussten Umgang mit Informationen.
Die besten Lehrer sind Bücher, Hobbys und Enkelkinder
Für gesundes lebenslanges Lernen empfiehlt Beck drei Dinge: Bücher, Hobbys und Enke lkinder. „Die cleversten Menschen lesen selbst sehr viele Bücher“, sagt er. „Die Langsamkeit , die aufkommt, wenn man sich in ein Buch vertieft, ist sehr hilfreich.“ Wenn wir Bücher lesen, können wir uns tief in Themen eindenken und einfühlen. So lassen sich Informationen wunderbar verdauen und können nachhaltig gespeichert werden.
Auch Hobbys hält der Neurowissenschaftler für ausgesprochen hilfreich. „Wenn wir uns in Ruhe einer Sache widmen, die wir gern mögen, können sich Informationen und Erfahrungen in uns setzen und gut verarbeitet werden. Die Nervennetzwerke werden so nach und nach aktiviert. In Ruhe, das ist wichtig.“ Ob wir kochen, backen oder im Wald spazieren gehen, Sport treiben, angeln oder Briefmarken sortieren – jede Handlung, die wir mit voller Hingabe tun, ist eine Wohltat für unser geistiges System. Zwischendurch brauchen wir dann neue Impulse und andere Blickwinkel, um unser Gehirn zu aktivieren. „Enkel sind wunderbare Lernbegleiter“, sagt der Fachmann, „und gehen Sie unter Leute, tun Sie das, worauf Sie Lust haben!“ Kinder lehren uns die Neugier, die Hingabe an den Moment und das Staunen über neue Erfahrungen. Aber auch Besuche im Theater, Kino, Gespräche, Ausflüge und Reisen sind gute Impulsgeber. „Jeder Ortswechsel bedeutet einen Wechsel der Perspektive“, sagt Beck. „Und das ist gut für den Verstand. Genauso wie die Bewegung an sich, denn die regt den Stoffwechsel an.“
Wenn wir also geistig fit bleiben wollen, dürfen wir uns neuen Erfahrungen und Erkenntnissen nicht verschließen. Im Gegenteil, wir müssen ihnen Platz in unserem Leben einräumen und auf sie zugehen. „Gutes Lernen ist ein bisschen wie Blumengießen: immer ein bisschen, in Etappen, mit Pausen – so kann alles aufgenommen werden und man kann ein Verständnis für die Dinge entwickeln“, erläutert Dr. Henning Beck. Auch dass Sie sich Zeit genommen haben, diesen Artikel zu lesen, dürfte Ihrem Gehirn gutgetan haben.